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Johannes Pursche

Die Schwierigen, die Lauten, die Abgehängten, die Vergessenen

Triggerwarnung: In diesem Blogbeitrag werden die Themen Selbstverletzung, Suizidgedanken und sexueller Missbrauch angesprochen, auf Details wird verzichtet. Wenn es dir damit nicht gut geht, dann überspringe den Beitrag lieber. Am Ende findest du Hilfsangebote, an die du dich wenden kannst.


Alle Kinder hören zu. Alle Kinder haben richtig Lust auf den Tag und arbeiten gut mit. Alle Kinder sind wissbegierig. Alle Kinder hören auf das, was ihnen gesagt wird. Alle Kinder sind lieb und nett und freundlich. Alle Kinder gehen reflektiert mit digitalen Medien um. Alle Kinder haben mit den Eltern vereinbarte Mediennutzungszeiten. Klingt nach einer Vorstadt-Grundschule mit Louis-Vuitton-Eltern. Klingt nach einem absoluten Traum für jeden, der regelmäßig in Schulklassen Workshops halten darf.

In Förderschulen klingt das oft nicht so. Leider.

In den letzten Wochen und Monaten durfte ich viele Workshops in verschiedenen Förderschulen und BVJ-Klassen übernehmen. Die Erfahrungen, die ich in dieser Zeit gemacht habe, waren prägend und haben mich oft noch Tage danach beschäftigt. Egal ob Förderschwerpunkt Emotional-Sozial oder Lernen - die Lebens- und Familiengeschichten von Förderschüler*innen sind häufig voller Tief- und Rückschläge.

Was sind Depressionen?

„Ich bekomme sowieso keine Komplimente, meine Eltern bezeichnen mich immer nur als dumme Hure.“ ist die Antwort einer Schülerin auf die Frage, ob die Schüler*innen sich über Komplimente, über nette Worte, über Wertschätzung freuen. Fehlende Wertschätzung, fehlende Aufmerksamkeit war ein wiederkehrendes Motiv in den Klassen, die ich besucht habe. „Ich werde seit der Grundschule gemobbt, ich verletzte mich seit der Grundschule selbst, ich habe seit der Grundschule Selbstmordgedanken. Johannes, was sind Depressionen?“ Wie soll ich darauf reagieren? Wie soll ich Jugendlichen beibringen, wie sie sich respektvoll im Netz verhalten, wenn sie selbst von der Lehrperson ständig „Halts Maul“ und „Halt die Fresse“ hören? Wie soll ich Kindern beibringen, dass sie sich in Mobbingfällen an Lehrpersonen wenden sollen, wenn die Lehrpersonen selbst am Mobbing beteiligt sind? Wie soll ich Kindern beibringen, dass sie sich an Eltern oder andere Erwachsene wenden sollen, wenn es zu sexuellem Missbrauch gekommen ist? Nichts zerschellt so brutal an den grausamen Mobbingerfahrungen von Kindern und Jugendlichen, wie theoretische Konstrukte in Form von Handlungspfeilen, Hilfsangeboten und Klassenchat Vereinbarungen.

Klingt fatalistisch. Jedoch habe ich während meiner Workshops überwiegend unglaublich tolle und engagierte Lehrer*innen, Schulsozialarbeiter*innen und Eltern kennengelernt. Die sich für ihre Kinder und Klassen einsetzen. Ihnen gebührt der größte Respekt. Denn sie haben viele Jahre mit den Kindern zu tun. Als Referent ist es einfach, ich bin nach einem Tag wieder weg. Von diesen engagierten Menschen kann es nie genug geben. Genau sie müssen noch stärker unterstützt und gefördert werden.

„Also traut euch, geht in Förderschulen, geht in BVJ-Klassen, geht dorthin, wo es anstrengend werden kann.“

Die Workshops waren anstrengend, manchmal ein Kampf. Sie haben mich emotional mitgenommen und mir oft tagelang viel zum Nachdenken gegeben – kann ich mehr tun? Wie gehe ich mit Wertschätzung um? Gebe ich meinen Mitmenschen um mich herum genug davon?

Die Workshops waren bereichernd. Sie waren spannend. Sie waren wertvoll, überraschend und witzig. Und sie waren und sind wichtig. Die Workshops haben mir gezeigt, wie wichtig Wertschätzung ist. Denn dadurch wird aus einem „Sie können mal das Maul halten“ am Anfang des Workshops ein „Vielen Dank für den Tag, Johannes.“ Ein respektvoller und offener Umgang miteinander. Ich habe erlebt, wie sich Kinder und Jugendliche öffnen, wenn ich ihnen auf Augenhöhe begegne. Wenn ich sie ernst nehme. Dann sind sie wie alle anderen Kinder auch. Dann hören alle Kinder zu. Dann haben alle Kinder Lust auf den Tag und arbeiten mit.

Viele unserer Trainer*innen haben am Anfang Respekt vor Förderschulklassen. Sobald sie jedoch einen Workshop gehalten haben, sind die meisten begeistert. Also traut euch, geht in Förderschulen, geht in BVJ-Klassen, geht dorthin, wo es anstrengend werden kann. Traut euch in „schwierige“ Klassen. Das wird nicht immer einfach, manchmal werdet ihr mehr als einmal tief durchatmen. Oft ist es aber belohnend, die Kinder dankbar. Dann öffnen sie sich. Dann wollen euch die herausforderndsten Jugendlichen plötzlich unbedingt all ihre Haustierbilder zeigen, ihre Lieblingsmusik, ihre Schildkröten-Emu-Schlangenzucht (kein Scherz), aber eben auch ihre Probleme, ihre Sorgen und Ängste in der digitalen Welt.

Diese Workshops sind wichtig. Handlungspfeile, Hilfsangebote und Klassenchat-Vereinbarungen sind wichtig. Nur so haben die Kinder das Handwerkszeug um sich selbst zu helfen. Die Workshops sind auch wichtig für wohlbehütete Grundschulkinder. Auch diese Kinder müssen in einer Medienwelt navigieren, die nicht für Kinder gemacht ist. Doch die Workshops sind vor allem wichtig, für die Kinder, die oft das Gefühl haben, allein da zu stehen.

Sie sind wichtig für die Schwierigen, die Lauten, die Abgehängten, die Vergessenen.


Hol dir Hilfe, wenn du Depressionen oder suizidale Gedanken hast. Zum Beispiel bei der Telefonseelsorge unter 0800 111 0 111 oder bei anderen Hilfsangeboten.



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